Donnerstag, 8. April 2010

Zeitungsleser

Gestern saß ich in der S-Bahn einem Zeitungsleser gegenüber, der auf mich wirkte wie der Vertreter einer ausgestorbenen Gattung. Er blätterte in der Süddeutschen, und mit seiner Mimik versuchte er deutlich jene Haltung zur Welt zum Ausdruck zu bringen, die man früher als kritisches Bewußtsein bezeichnet hatte. Er trug eine so schmutzige wie teure Hose, eine Art Pferdedecke als Pullover, eine Designerbrille, Haupthaar und Bart waren grau und wirr. Ich vermutete, daß er schon 1968 groß dabei war. Wenn jemand in seiner Nähe redete, beschwerte er sich und deutete entrüstet auf seine Zeitung.

Als ich ihn beobachtete, wunderte ich mich darüber, daß es also tatsächlich noch Kreise gibt, in denen das öffentliche Zeitungslesen als prestigefördernd gilt. Eigentlich absurd, denn wenn man sich einen Großteil der heutigen Presseerzeugnisse anschaut, möchte man sich lieber den Damen früherer Zeiten anschließen, die ihre Handschuhe nie mit Druckerschwärze befleckt hätten: Zeitungen sind schmutzig, in vielerlei Hinsicht.

Der Gedanke, daß die Massenmedien vor allem der Aufklärung dienen, hält sich hartnäckig. Würde man eine Straßenumfrage starten, würden zwar wahrscheinlich die meisten der Aussage zustimmen, daß die Presse lügt. Vielleicht könnten sie diese Behauptung auch mit Beispielen untermauern und würden sich z. B. an den Schweinegrippe-Hoax erinnern. Doch auch da galt zunächst: Was in der Zeitung steht und oft wiederholt wird, muß wahr sein.

Man konsumiert Massenmedien, um sich zu informieren. Je größer die Informationsflut, um so aufgeklärter wähnt man sich. In Gesprächen springt man von einer Halbwahrheit zur nächsten, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können. Denn die vielen Einzelinformationen, die den Leser tagtäglich überfluten, führen nicht zu Erkenntnis, sondern Verwirrung. Es fehlen die Kontexte für das Verständnis. Niemand verfügt über das Wissen, daß er bräuchte, um all die Informationen, die er geliefert bekommt, einordnen, überprüfen und bewerten zu können. Und genau dieses Tatsache läßt sich beliebig nutzen, wenn statt Nachrichten Propaganda verbreitet werden soll. Informationen, Bruchstücke von Wissen, können verfälscht oder in neue Zusammenhänge gerückt werden, so daß sie die propagierte Weltsicht bestätigen und dazu dienen können, bestimmte Interessen durchzusetzen. Als Beispiel sei nur daran erinnert, wie weit die Medien in der gegenwärtigen Kampagne gegen die Kirche den Begriff "Mißbrauch" ausdehnen: Wenn 1960 irgendwo in einer katholischen Schule ein Schüler eine Ohrfeige bekommen hat, wird das heute zur Sexualstraftat hochgeschrieben. Der Leser wird in eine bestimmte Richtung gelenkt, als Transportmittel dienen Gefühle, die durch die Berichterstattung geweckt werden: in diesem Fall Empörung und Abscheu. Die Frage der Plausibilität stellt sich oft nicht mehr.

Natürlich ist auch hier jede Verallgemeinerung falsch. Es gibt gute, ehrliche Journalisten, die sauber recherchieren, nach der Wahrheit suchen und den Unterschied zwischen Berichterstattung und Kommentar kennen ( - beide Gattungen verschwimmen heute immer mehr). Doch in einer guten und gesunden Presselandschaft, die ein breites Spektrum unterschiedlicher Meinungen zuläßt, würde man ihre Stimmen deutlicher vernehmen. Die Entwicklung heute weist in die andere Richtung:  In unserer Konsenskultur gilt Meinungsvielfalt tendenziell als bedrohlich.

Das Internet läßt in dieser Situation Morgenluft wittern, solange es frei ist. Die Zeitung in der Hand, als Zeichen für Bildung und Unterscheidungsfähigkeit, erscheint mir dagegen ein wenig gestrig.

1 Kommentar:

  1. Sehr treffend beobachtet.
    Man muß es sich wirklich ernsthaft fragen: Wie sähe die momentane Situation für uns als Katholiken aus, wenn es das Internet in dieser Form nicht gäbe?
    Danke für die Gedankenanstöße!

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