Montag, 27. September 2010

Die kleine Therese, Joseph Roth und – Schnaps

Am 1. Oktober ist das Fest der heiligen Therese von Lisieux. Das weiß ich so genau, weil sie die Patronin der Schule ist, die ich besucht habe. Das hieß jedes Jahr: Patronatsfest, Schulgottesdienst und anschließend meist unterrichtsfrei, neun Jahre lang. Sowas prägt sich ein. Dennoch ist mir die heilige Therese in dieser Zeit nicht nähergekommen.

Geändert hat sich das erst, als ich Joseph Roths Erzählung „Die Legende vom heiligen Trinker“ gelesen habe. Und das, obwohl die heilige Therese darin gar nicht selbst auftritt (oder vielleicht doch?). Es ist Roths letzte Erzählung, geschrieben, als er schon vom jahrelangen Alkoholmißbrauch gezeichnet war, und sie hat nicht mehr ganz den Glanz seiner früheren Werke. Aber die Geschichte ist ergreifend: Ihr Hauptperson ist der Trinker Andreas, ein Stadtstreicher in Paris. Ihm wiederfährt eines Tages – ja, was eigentlich: ein Zufall, ein Wunder? Jedenfalls schenkt ihm ein wohlgekleideter Herr 200 Francs. Und hier kommt die heilige Therese ins Spiel: Denn da Andreas ein Mann von Ehre ist, verabredet er mit dem Herrn, das Geld zurückzuzahlen. Aber nicht dem Spender, sondern der „kleinen Therese“ in ihrer Kapelle Sainte-Marie-de-Batignolles. Insgesamt dreimal widerfahren dem guten Andreas solche Zufälle, dreimal kommt er unversehens in den Besitz großer Geldbeträge. Aber er macht keinen guten Gebrauch davon. Seine schwachen Versuche, sich in die Gesellschaft zurückzuarbeiten, scheitern sehr schnell: an falschen Freunden, leichten Mädchen und vor allem am Schnaps. Nur an die kleine Therese denkt er, denn er macht sich auch dreimal auf in die Kapelle Sainte-Marie-de-Batignolles, um die Schuld zurückzuzahlen. Aber vor der Kirche ist auch eine Kneipe, und so ist der gute Vorsatz rasch vergessen.

Da kommt die kleine Therese selbst zu ihm, in die Kneipe: „In diesem Augenblick tat sich die Tür auf, und während Andreas ein unheimliches Herzweh verspürte und eine große Schwäche im Kopf, sah er, daß ein junges Mädchen hereinkam und sich genau ihm gegenüber auf die Banquette setzte. Sie war sehr jung, so jung, wie er noch nie ein Mädchen gesehen zu glaubte, und sie war ganz himmelblau angezogen. Sie war nämlich blau, wie nur der Himmel blau sein kann, an manchen Tagen, und auch nur an gesegneten.“ Natürlich heißt das kleine Mädchen Therese, und es weiß gar nicht, wie ihm geschieht, als der verwahrloste Mann ihm Geld aufdrängt. Während Andreas noch versucht, seine Schuld zu begleichen, bricht er zusammen, es geht mit ihm zu Ende. „Und man schleppt ihn, weil in der Nähe kein Arzt und keine Apotheke ist, in die Kapelle, und zwar in die Sakristei, weil Priester doch etwas von Sterben und Tod verstehen, wie die ungläubigen Kellner trotzdem glaubten; und das Fräulein, das Therese heißt, kann nicht umhin und geht mit.“ Hier stirbt Andreas.

„Gebe Gott uns allen, uns Trinkern, einen so leichten und so schönen Tod!“ - das ist der letzte Satz der Geschichte. Roths eigener Tod war leider anders. Er starb in einem Armenhospital, im Delirium tremens, ans Bett festgeschnallt und ganz verlassen. Fast könnte man meinen, daß sein Tod seine Erzählung widerlegt hat. Mir hat sie aber die Augen geöffnet, für die kleine Therese und für das, was sie uns zeigen will: das Wunderbare des Glaubens, das der Alltagsvernunft widerspricht. Das Schwache und Zarte, das doch so stark sein kann. Und die Gnade, die uns nachgeht, auch wenn wir ihr ausweichen.