Montag, 30. Mai 2011

Wo ist unser Israel?

Der kleine Sharuz ist ein ganz normales Kind. Zwar ist er dunkelhäutig, hat schwarze Haare und braune Augen, denn seine Familie stammt aus dem Iran. Aber beim Spielen mit den Nachbarskindern in Berlin-Spandau interessiert das niemand. Erst als die Familie in den Stadtteil Wedding umzieht, ändert sich das. Zuerst freut sich Sharuz über viele neue Spielkameraden, die genauso aussehen wie er: dunkelhäutig und scharzhaarig. Doch über die Standardfrage der Gleichaltrigen beim Fußball- oder Basketball wundert er sich: „Bist Du auch ein Muslim?“ Sharuz weiß nichts über Religionen, er ist säkular erzogen und glaubt nicht an Gott. Was die Frage zu bedeuten hat, erfährt er erst, als er eines Tages mit einer Halskette in der Schule erscheint, an der ein Davidstern hängt: ein Mitbringsel aus den Sommerferien in Israel. Sharuz ist Jude – und wird für die überwiegende Mehrzal seiner Mitschüler zum Feind, zum Ausgestoßenen, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollen, ja, den sie hassen und verabscheuen. Von einem Tag auf den andern.

Arye Sharuz Shalicar ist heute Pressesprecher der israelischen Armee. Er hat Deutschland den Rücken gekehrt. doch seine Kindheitserinnerungen hat er in deutscher Sprache veröffentlicht, unter dem provokanten Titel „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ (dtv 24797). Es zeigt dem Leser eine Welt, von der die meisten Deutschen, (noch dazu diejenigen, die Bücher lesen und sich für informiert halten), keine Ahnung haben. Es zeigt ein Deutschland, in dem Deutsche nur noch als entrückte Vertreter der Staatsmacht oder in Straßennamen vorkommen.

Schön ist nicht, diese „Bunte Republik Deutschland“. Der junge Sharuz erlebt sie als einen Dschungel von Gewalt und Anfeindungen, ein tägliches Spießrutenlaufen. Er wird gedemütigt und gejagt, bedroht und geschlagen: „Jude, du hast mit gesenktem Kopf durch die Schule zu laufen!“ - unverhüllter Antisemitismus mitten in Deutschland, aber nicht von deutschen Neonazis ausgehend, sondern von türkischen, kurdischen und arabischen Jugendlichen, die den Nahostkonflikt in unsere Städte importieren. Schließlich findet Sharuz so etwas wie Zuflucht in einer kriminellen Jugendgang. Er verschafft sich Respekt als Graffiti-Sprayer, ist bei Schlägereien und Messerstechereien vorn dabei. Doch bevor er völlig abstürzt, findet er Halt genau dort,wo die Ursache seiner Verfolgungen liegt: in seinem Jüdischsein. Er wird Zionist und wandert nach Israel aus.
Ein Vorzug des Buches liegt darin, daß Shalicar seine Erlebnise (fast) ohne Bitterkeit schildert. Er berichtet auch von Freunden, die er unter den Muslimen findet, wie etwa den frommen Türken Sahin, der auch in bedrohlichen Situaltionen zu ihm hält. Eine präzisere und zugleich lebendigere Schilderung der muslimischen „Kieze“ düfte in Deutschland derzeit nicht zu finden sein. Doch das Buch ist mehr als ein Beitrag zur „Integrationsdebatte“. Es ist zugleich eine Refexion über Identität und – wenn auch eher unausgesprochen – über den Glauben. Shalicar wird nicht nur Zionist, er beginnt auch, die jüdischen Gebote zu beachten, in die Synagoge zu gehen, den Sabbat zu feiern. Deutsche Identität begegnete ihm vorwiegend an der Schule, vor allem in Gestalt der „Vergangenheitsbewältigung“. Von einem Besuch seiner Grundschulklasse in einer Ausstellung über Anne Frank verdrückt er sich vorzeitig – er will lieber mit seinen Kumpels Fußball spielen. Die Pädagogik der Vergangenheitsbewältigung bleibt gegenwartsblind: die Drangsalierung eines lebendigen Juden scheint sich nicht wahrzunehmen. Seine Identität findet der junge Shalicar denn auch nicht in Deutschland, sondern in Israel, für ihn der Inbegriff eines stolzen, selbstbewußten Judentums, das sich gegen seine Feinde zur Wehr setzt.
Als deutscher Leser wird man spätestens hier sehr nachdenklich: Der Wedding ist mittlerweile nicht nur in Berlin, sondern auch in Köln oder Frankfurt, Duisburg oder Hamburg. Ich denke an die deutschen Kinder, die in den Schulen unserer Problemviertel vielleicht ähnliches erleben wie Sharuz Shalicar im Berlin der 90er Jahre. Ich denke auch an die Christen im Orient, die so tapfer in ihre belagerten Kirchen gehen, während die Kirchen hierzulande leer bleiben. Und ich frage mich: Woraus können wir in Deutschland eigentlich noch Halt, Orientierung und Stärke ziehen? Wo ist unser „Israel“?

Kreuzzeichen in Holland: Da schämt sich sogar der Hund

... meint einer der Prekariatsschreiber von "Welt online", der den Auftrag hatte, einen Propagandaartikel (bezeichnend schon der Titel: "Holländische Ultra-Christen wollen den Gottesstaat") gegen die in den Niederlanden stärker werdende Calvinisten-Partei zusammenzuschustern. Über einen ihrer Vertreter heißt es: "Hoefnagel bekreuzigt sich, seine Dogge schaut wie peinlich berührt auf das Wasser."

Nun weiß ich nicht, ob sich Calvinisten bekreuzigen. Das herauszufinden ist auch nicht mein Job. Aber der Artikel klingt nicht so, als hätte der Autor viel Recherche betrieben (außer mal kurz googlen). Würde ich aber auch nicht, wenn ich für meine Artikel nur 5,80 € bekäme. Mehr werden die dafür doch hoffentlich nicht zahlen! Und ich frage mich immer wieder, wieso sich die "Welt" einen derart erbärmlichen Online-Auftritt leistet.

Ich weiß auch nicht, wie die holländischen Calvinisten sind. Vermutlich sind es tüchtige, fleißige, wohlhabende, gottesfürchtige Geschäftsleute - vereinen also sämtliche Eigenschaften, die kleinen, politisch weit links stehenden, in zugigen WG-Zimmern hausenden Zeitungsschreibern verhaßt sind.

Ich weiß aber, was dahinter steckt. Die übliche Hetze gegen religiöse Menschen, die im medialen Diskurs der BRD immer die Bösen sind.

Und natürlich das Entsetzen darüber, daß ausgerechnet das freigeistige Kifferparadies Holland gerade eine radikale Wende durchlebt. Die Regierung ist konservativ, und mit dem Kiffen ist es auch bald vorbei.

Vor kurzem war ich für ein paar Tage dort. Eine Freundin hatte mich zum Geburtstag eingeladen, und ich war doch ein wenig erstaunt, daß damit eine gemütliche Familienfeier mit Sahnetorte gemeint war. Erst kam ihre Familie (Eltern, Schwestern, Nichte, Schwager, Tante und Onkel), danach die Familie ihres Freundes (Eltern, Tante und Onkel, Bruder und Freundin, Opa Hank und seine Frau). Dazwischen ein paar Freundinnen. Außer mir sprachen alle Niederländisch. Klar, für mich war das schwierig. Ich betrachtete es als eine Art Übung - Manieren verfeinern und so - und habe mir überlegt, was Königin Beatrix in dieser Situation wohl tun würde. Also ordentlich sitzen, entspannt gucken, versuchen, den Gesprächen irgendwie zu folgen, und ab und zu ein bißchen auf Englisch mitreden. Und das zwölf Stunden lang! War anstrengend, und danach hätte man mich durchaus ins diplomatische Corps aufnehmen können.

Jedenfalls: eine solche Geburtstagsfeier, mit der ganzen Familie, habe ich hier in Deutschland bei Leuten in meinem Alter noch nie erlebt. Darüber wiederum haben meine holländischen Freunde gestaunt. Die übrigens viel bürgerlicher sind, als es hier für junge Akademiker üblich ist. Und vom Kiffen wirklich gar nichts hielten.

Und dann auf der Feier und in der Stadt: die vielen schönen, gut gekleideten und sehr weiblich auftretenden Frauen. Mit Gender-Mainstreaming war das wohl nix. Ich bin ja nun wirklich kein Nerd, der nur zwei Hosen und einen gestreiften Pulli besitzt. Stattdessen habe ich einen Schrank voll mit kurzen schwarzen Kleidern und eine Kiste mit Vogue-Heften. Aber neben den holländischen Frauen ... fühlte ich mich fast ein bißchen blaß.

Schön fand ich es auch, daß meine Freundin ein traditionelles holländisches Essen für mich gekocht hat - Rollbraten mit Kartoffeln, Bohnen und Apfelmus - den Braten geschnitten hat ihr Freund.

Und dann ein Tag in Amsterdam - das Gegenteil dieser sanften häuslichen Atmosphäre. Den Touristenströmen gefolgt, ins Rotlichtviertel geraten. Ein Schaufenster neben dem anderen, in jedem eine tanzende Frau in Reizwäsche, die meisten mit slawischen Gesichtern. Alkohol, Rauchschwaden, und vor allem die leeren Gesichter der Frauen hinter Glas, die so sehr gedemütigt wurden. Da dachte ich, genau so sieht eine entchristlichte Stadt in Reinform aus. Und daß die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen nach dem Verlust des Glaubens um so stärker offenbar wird.