Sonntag, 10. Juli 2011

„Im Mittelalter wollte ich aber nicht leben.“

Nur jemand, der nicht ganz bei Trost ist, wird heute behaupten, daß er gerne im Mittelalter leben würde. In einer Zeit, in der es noch keine Antibiotika gab, keine Narkose, keine Kopfschmerztabletten, keine Badezimmer und Steckdosen; in einer Zeit, in der die Hygiene schlecht war und man Glück hatte, wenn man nicht vor dem zwanzigsten Lebensjahr an einer Lebensmittelvergiftung gestorben war oder als Frau im Kindbett. Die Vorstellung, daß ein heutiger Europäer in einer solchen Zeit überhaupt lange überleben könnte, ist absurd. Und dann würden wir den mittelalterlichen Menschen mit seinem anderen Denken, seiner anderen Gemütsart auch gar nicht verstehen.

Es ist für die Heutigen unvorstellbar, im Mittelalter zu leben, weil die irdische Existenz nun einmal an Raum und Zeit gebunden ist. Hier gibt es mich nur jetzt.

Und trotzdem: Wenn jemand mit halbem Ohr eine Diskussion  über das 19. (!) Jahrhundert verfolgt und dann einwirft: „Ich wollte jedenfalls nicht im Mittelalter leben!“ (sowas habe ich kürzlich erlebt, und diejenige hatte einen Abschluß in Geschichte!), ist das unglaublich dumm. Wer auf sichere Art seine schlechte Bildung unter Beweis stellen möchte, möge einfach das Wort mittelalterlich im Sinne von „rückständig, düster, böse“ benutzen. Oder Sätze sagen wie: „Die Kirche ist im Mittelalter stehengeblieben.“ Oder die Wörter „Mittelalter“ und „Hexenverbrennung“ ständig miteinander in Zusammenhang bringen. (Hexenverbrennungen sind ein Phänomen der Frühen Neuzeit!) Oder, immer wieder schön: „Der Papst fördert mit allen Mitteln die mittelalterliche Tridentinische Messe.“ (Hans K. – Ich frage mich, welches Bewußtsein für Epochengrenzen es heute überhaupt noch gibt. Manchmal habe ich den Eindruck, die Mehrheit kennt nur Mittelalter und Nazizeit.)

Natürlich wollten auch die Menschen des Mittelalters mit Sicherheit nicht heute leben.  Sie gehörten ebenfalls in ihre Zeit. Würde man Thomas von Aquin in eine Zeitmaschine setzen, würde ihn allein schon die barbarische Art und Weise, wie heute Debatten geführt werden, daran zweifeln lassen, in der größten, glänzendsten, klügsten und fortschrittlichsten Epoche überhaupt gelandet zu sein – auch wenn die Mehrheit das heute denken mag. Zumal er die Idee des sich immer weiter vollendenden Menschheitsfortschritts sicher befremdlich gefunden hätte. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

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