Samstag, 25. April 2009

Der Tunnel

Die Erinnerung ist ein großer Gleichmacher. Stimmungen, Eindrücke bleiben haften, und Details, die nicht passen, werden passend gemacht. So geht es mir auch mit meinen Erinnerungen an den Deutschunterricht damals im Gymnasium. Die Grundstimmung, die haften geblieben ist, trifft die Sache gewiß gut: eine einzige Betroffenheitssuppe, in der Günther Wallraff und Dorothée Sölle schwimmen, und die wir essen sollten, um zu besseren Menschen zu werden. Literatur, so mußten wir damals vermuten, hatte den Zweck, das Problembewußtsein zu schärfen und das Weltbild der Schüler mit einfachen Wahrheiten einzuzäunen. So konnte zuletzt sogar der "Faust" heruntergebrochen werden auf Gretchens mißlungene Emanzipation. Den "Faust" freilich liest man erst kurz vor dem Abitur, und da wußte ich schon, daß Goethe nichts dafür konnte. Um andere Autoren mache ich noch immer einen großen Bogen. So bisher auch um Dürrenmatt.  Wie allen Autoren, die ich in der Mittelstufe lesen mußte, brachte ich ihm  Mißtrauen entgegen. Zu Unrecht, wie ich gestern erkannte. Ich las noch einmal seine Erzählung "Der Tunnel".  Ein 24-jähriger Student , "fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige) nicht allzu nah an ihn herankomme" , steigt in den Zug nach Zürich. Der Zug gerät in einen nicht endenden Tunnel und rast, immer schneller, in einen Abgrund.  Der Lokführer ist, wie der Student feststellen muß, längst abgesprungen, der Führerstand leer.

Die Vielzahl der Deutungen, die diese kurze Erzählung hervorgerufen hat, zeigt, daß sie sich nicht auf einen Begriff bringen läßt, sich nicht von einem Begriff  unterwerfen läßt. In den Alltag bricht ein unverständliches Geschehen ein, das Schreckliche, vor dem man sich nicht abschirmen kann; das Unerklärliche, vor dem man sich vergeblich mit Erklärungen zu schützen versucht: "Wir bewegen uns auf Schienen, der Tunnel muß also irgendwohin führen. Nichts beweist, daß am Tunnel etwas nicht in Ordnung ist, außer natürlich, daß er nicht aufhört."

Und so verweist diese kurze Erzählung zugleich auf die Grenzen menschlicher Erkenntnis wie auch auf die Freiheit der Literatur, Dinge zu sagen, die sich nicht ohne weiteres in einfache Welterklärungsmuster oder gar Handlungsanweisungen übersetzen lassen.

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