Freitag, 10. September 2010

Kitsch, Intrigen, Mittelmaß: die deutsche Nachkriegsliteratur

Wer etwa noch Illusionen über die deutsche Nachkriegsliteratur hatte, dem werden sie durch den neuesten Essay von Thorsten Hinz, dem wortgewaltigen Autor der Jungen Freiheit, gründlich geraubt. In dem Bändchen „Literatur aus der Schuldkolonie“ präsentiert er die erste Garde der Nachkriegsautoren als einen Klüngel von Zeitgeistrittern, der seine Quasimonopolstellung durch eine Mischung aus Doppelmoral, Opportunismus und handfester Intrige errungen hat. Gemeint sind die Autoren der sogenannten Gruppe 47, deren jahrzehntelange Vormachtstellung erst heute allmählich durch den (über-)fälligen Generationenwechsel zu Ende geht.
Hinz' gedankliche Grundfigur ist in dem Begriff der Schuldtranszendez ausgedrückt. Er meint die Verabsolutierung des Holocaust zum Menschheitsverbrechen, die den Deutschen nach '45 eine unlebbare Negatividentität aufgezwungen habe. Das ist natürlich starker Tobak und für die Jünger der Political Correctness eine Blasphemie. Aber es erweist sich als probater Schlüssel für die Irrungen und Wirrungen deutscher Literatur nach 1945. Hinz macht für die Entstehung dieses Vorstellungskomplexes zwei Urheber verantwortlich: Die Amerikaner und Thomas Mann. Die Amerikaner mit ihrem Versuch der „Re-Education“ der Deutschen, Thomas Mann mit seinem Roman „Doktor Faustus“. Er appliziert das Motiv des Teufelspaktes auf den vermeintlich zum Diabolischen geneigten deutschen Nationalcharakter und gelangt so zur Gleichsetzung alles Deutschen mit dem absolut Bösen. Die Konsequenz, nach Hinz: „So erscheinen die Kultur und Geschichte Deutschlands als ein diabolisch inspiriertes Schuldverhängnis, das sich in der Raserei des Nationalsozialismus vollendet ... und durch die Kriegsgegner verdientermaßen an sein Ende gebracht wird.“
Es blieb den Autoren der Gruppe 47 vorbehalten, diese Grundidee zu verflachen, zu popularisieren und weiter zu entfalten. Alfred Andersch etwa feierte 1952 in den „Kirschen der Freiheit“ seine eigene Desertion bei Kriegsende als notwendige Delegitimation der Loyalität zum eigenen Volk, gerechtfertigt dadurch, daß „die Deutschen als Nation tot sein würden, so wie alle Nationen“. Wolfgang Koeppen gelang in seinem „Aufzeichnungen aus einem Erdloch“ (1948) zum ersten Mal der Kunstgriff, sich bei der Darstellung der NS-Zeit nachträglich in die Perspektive der Opfer zu versetzen (hier des Juden Jakob Littner), ein Verfahren, das bis heute für sicheren Beifall gut ist. Und Heinrich Böll, der Großmeister der von ihm selbst ausgerufenen „Ästhetik des Humanen“, schaffte in den 60er Jahren den Übergang vom Vergangenheitsbewältiger zum moralisierenden Gesellschaftskritiker: Sein „Clown“ Hans Schnier, der nichts arbeitet, aber die Gesellschaft ständig mit hysterischen Anklagen überzieht, wäre heute als Leiter eines staatlich finanzierten Antirassismus-Projekts prädestiniert. Und die Hauptfigur aus „Gruppenbild mit Dame“, Leni Pfeiffer, nimmt gar die ganze Last der deutschen Geschichte auf sich. Sie bekommt ihr erstes Kind von einem russischen Kriegsgefangenen, ihr zweites von einem türkischen Gastarbeiter. In derartigem Sozialkitsch ruhen unverkennbar die geistigen Fundamente der heutigen Multikulti-Republik.
Das aufschlußreichste Kapitel des Buches behandelt den Schriftsteller Gerd Gaiser, der in den fünfziger Jahren die historischen Ereignisse nicht aus der Perspektive der Sieger, sondern aus einer einer deutschen Binnensicht zu zeichnen versuchte. Das konnte die linke Intelligentsia nicht dulden, und so wurde Gaiser durch eine konzertierte Attacke der Kritiker Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki literarisch vernichtet. An seiner Stelle schob das Literatur-Establishment den mittelmäßigen Böll in den Vordergrund. An diesem Beispiel wird besonders deutlich, wie viel der Siegeszug der Gruppe 47 mit Repression und geistiger Uniformisierung zu tun hatte. Hinz ist ein scharfsinniges, funkelndes Buch gelungen, das trotz seines schmalen Umfangs mehr Erkenntnis vermittelt als manch dickleibiger Germanistenwälzer.

Thorsten Hinz: Literatur aus der Schuldkolonie. Schreiben in Deutschland nach 1945. Schnellroda: Edition Antaios 2010.

1 Kommentar:

  1. Wirklich interessant. Danke. Werd's mir merken, auch wenn ich vermutlich niemals Zeit haben werde, es zu lesen. :/

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