Mittwoch, 26. August 2009

Außenperspektive

Die russische Historikerin Leonore Schumacher zeichnet in ihrem Buch „Die Stadt im Feuer. Nachdenken über Rußland“ ein Gespräch auf, das sie im November 1988 mit einem anderen orthodoxen Christen geführt hat. Dabei kam am Rande auch die Rede auf die katholische Kirche - eine interessante Außenperspektive auf das Konzil und seine einseitige Interpretation:

„Denken Sie bitte an das Zweite Vatikanische Konzil mit seinen Lockerungen, Erleichterungen, Modernisierungen und Konzessionen. Von wem wurden sie eigentlich gewünscht? Vom katholischen Volk? Ich bezweifle das. Im August 1963 hielt ich mich einige Wochen in einem westfälischen Dorf auf und besuchte sonntags die katholische Messe. Da verkündete der Pfarrer von der Kanzel die soeben spruchreif gewordene Genehmigung, vor dem Empfang der hl. Kommunion zu frühstücken. Wie war die Reaktion der wie immer zahlreich erschienenen Gemeinde? Ob Sie mir glauben oder nicht: Die Leute waren befremdet, wie vor den Kopf gestoßen. Sie sahen einander an, zuckten die Achseln. In den Bauernhäusern gab es Gesprächsstoff für den ganzen Sonntag." (S. 360)

Eine Anekdote, die mich zwar nicht überrascht, aber doch ein bißchen nachdenklich gemacht hat. Heute ist man es gewohnt anzunehmen, daß bei Reformen Forderungen aus der Basis umgesetzt werden. War hier vielleicht das Gegenteil der Fall? Wurden solche Neuerungen am Ende gegen breite Kreise der Gläubigen durchgesetzt? Den Eindruck habe ich selbst aus einigen Diskussionen gewonnen - auch wenn dies freilich nicht repräsentativ ist.

In Verlauf des Gesprächs zeigt sich auch, daß die beiden orthodoxen Christen zwischen dem Konzil und seiner einseitigen Interpretation unterscheiden. Und ihre Kritik an der Liturgiereform dürften wohl viele der Kirche verbundene Katholiken teilen:

"Ich weiß nicht, ob das, was uns betroffen macht, das Resultat des Konzils ist, oder ob diese Erscheinungen auf Ignoranz, einen erschreckenden Mangel an Menschenkenntnis oder auf menschliche Schwachheit zurückgehen. Ich nenne in erster Linie die völlig ungerechtfertigten Änderungen am Herzstück der römischen Liturgie [...]; den Ersatz des feierlichen Introitus durch profane Begrüßungsworte, die auch im Bierlokal ihre volle Berechtigung hätten (eine schlechte Einstimmung auf die bevorstehende sakrale Handlung!). Die rationalistischen Erwägungen, aus denen der Altar von seinem sakralen Standort in die Mitte des Kirchenraumes versetzt und damit „demokratisiert“ wurde [...] Das alles hat der Religiosität der Massen durchaus keinen Aufschwung gegeben, sondern sie im Gegenteil auf ein Minimum abgeschwächt.“ (S. 360f.)

Die Schlußfolgerung der beiden ist freilich vernichtend:

„Das Lockern der Zügel durch das Konzil, das unsere Kindschaft Gott gegenüber hervorheben sollte, verführte statt dessen die Menschen zu eigenmächtigem Handeln, das heute an Blasphemie grenzt.“ (S. 361)

Die Akte der Blasphemie, die die beiden Gesprächspartner so erschrecken, sind heute im Grunde schon zur Gewohnheit geworden - z.B. dem Zeitgeist angepaßte Bibelübersetzungen (schon vor der "Bibel in gerechter Sprache"):

„Bitte einen Beweis für offenkundige Blasphemie.“
„In neuen Übersetzungen des Evangeliums wurde die Jungfrau Maria als junge Frau bezeichnet. Schon bald nach dem Konzil kamen verschiedene neue Übersetzungen der Evangelien heraus, darunter eine von Heinrich Böll und Walter Jens redigierte. In dieser Übersetzung wurde die Jungfrau Maria durchweg als junge Frau bezeichnet. In der Liturgie wurden die Texte so lange verlesen, bis es Proteste zu hageln begann." [...]
„Mit dem einen Wort sind Evangelium und Christentum ausgelöscht.“
„Es geht noch weiter. Eine fatale Fälschung verbirgt sich mitten im Eucharistischen Kanon. Dort heißt es nicht mehr: „Mein Blut...für viele vergossen“, sondern: Für alle.“
„Wer wagte das?“
„Man argumentiert: Gott ist viel barmherziger als...“
„Als seine authentischen Worte?“
„Ich sehe das anders. Wir sind barmherziger als Er. Auf den ersten Blick ein marxistischer Gedanke, aber im Grunde ein luziferischer, der bis zum Herzstück der römischen Messe vorgedrungen ist und sich dort festgesetzt hat. Stört er jemanden? Die heutigen Kirchgänger sind von einer erschreckenden Ignoranz. Priester, die ich darüber befragte, wischten es als „Belanglosigkeit“ vom Tisch. Sie wollen nicht hinter den Sinn dieser unfaßbaren Fälschung kommen.“ (s. 361f.)

(Leonore Schumacher: Die Stadt im Feuer. Nachdenken über Rußland, Stein am Rhein: Christiana 1989, S. 360-362)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.