Sonntag, 17. April 2011

Sünde und Arbeit

Ich erinnere mich an einen Professor aus meinen Studienzeiten, einen Alt-68er, der mit triumphalistischem Gesichtsausdruck zu sagen pflegte, die Sünde sei heute abgeschafft. Was er damit ausdrücken wollte, war lediglich, daß er den Bedeutungsverlust der Religion gut fand und sich darüber freute, daß überall mit großer Offenheit über Sex gesprochen wird. Natürlich ist die Sünde nicht abgeschafft, das braucht man religiösen Menschen nicht zu erklären. Den Anderen mag das Wort "Sünde" wie ein Erinnerungsstück aus einer untergegangenen Welt erscheinen - doch auch sie kennen Schuld, Scham und die Angst, daß böse Taten offengelegt werden. 

Die Vorstellung von Sünde als Verstoß gegen Gottes Gebote wird jedoch in säkularen Gesellschaften durch andere ersetzt. Man kommt ihnen auf die Spur, wenn man sich fragt, was das größte Tabu ist. Man darf heute über alles Mögliche in größter Offenheit reden, doch eines behält man besser für sich: berufliches Scheitern. Denn der Beruf ist wichtig, sogar entscheidend für das Selbstbild. Man arbeitet nicht nur für den Lebensunterhalt, viele andere Vorstellungen sind daran geknüpft: Erfolg hat, wer Karriere macht und gut verdient. Man braucht den richtigen Beruf, um sich selbst zu verwirklichen.  Seine Fähigkeiten hat man bekommen, um sie im Beruf einzusetzen. Man muß immer wieder seine Ziele neu definieren, weiter vom Aufstieg träumen, vom nächsten Karriereschritt, und nie ist man irgendwo angekommen. Das alles ist selbstverständlich, die meisten haben es verinnerlicht. Ein preußisches Arbeitsethos hat die Seelen in Besitz genommen, auch an mir selbst merke ich das oft genug. Mir ist die Vorstellung nicht fremd, ich könnte, wenn ich über mein Leben Rechenschaft ablegen soll, vor allem nach beruflichen Fehlentscheidungen gefragt werden. Warum diese vollkommen unnütze Doktorarbeit, die mich nicht weitergebracht hat? (Sie wäre verzichtbar gewesen, aber das wußte ich erst später.) Warum nicht stattdessen ein Volontariat in einer angesagten Werbeagentur? Ich wäre heute wahrscheinlich irgendwo Creative Director, und da ich das nicht bin, kommt es mir erstrebenswert vor. 

Der Erfolgsdruck ruft natürlich Gegenbewegungen hervor. Wenn es mit dem Beruf nicht klappt, reagiert man wie ein ertappter Sünder. Entweder mit einem verzweifelten "Ich war's nicht!" oder mit: "Da sind andere dran schuld." Der Staat, die Gesellschaft und so weiter. Da es nicht leicht ist, Karriere zu machen, und die Arbeitswelt härter geworden ist, braucht man sich nicht darüber zu wundern, daß soviele Menschen Zuflucht bei den Linken suchen. Denn dort wird ihnen genau das gesagt: Daß sie für ihr Scheitern nicht selbst verantwortlich sind, sondern daß es immer die anderen sind, die Umstände, das ungerechte System. Vielleicht ist es der Reiz linken Denkens, daß es auf diese Weise eine Art von Absolution verspricht. Aber wirklich befreiend ist das nicht.

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