Freitag, 23. März 2012

Die Mönche von Tibhirine


Die sieben Trappisten aus dem Kloster „Notre Dame de l'Atlas“ in Algerien sind heute weltberühmt. Im März 1996 wurden sie – während des algerischen Bürgerkrieges - unter ungeklärten Umständen entführt und zwei Monate später ermordet aufgefunden. Das heißt, aufgefunden wurden nur ihre abgetrennten Köpfe.
Sie hatten sich der Aufforderung islamistischer Terroristen, das Land zu verlassen, nicht gefügt, weil sie bei den Menschen bleiben wollten, mit denen sie bislang gelebt hatten: einfachen muslimischen Dorfbewohnern in der Nachbarschaft ihres Klosters. Bis dahin hatte kaum jemand von den sieben Mönchen Notiz genommen. Heute gelten sie als Vorbilder für den sogenannten „christlich-islamischen Dialog“. Spätestens seit dem französischen Kinofilm „Von Menschen und Göttern“ aus dem Jahr 2010 sind sie international bekannt.
Der Film zeigt zu Beginn eine Szene, in der die Mönche an einem islamischen Fest der Dorfbewohner teilnehmen. Das ist wahrscheinlich nicht erfunden, denn die Mönche wollten tatsächlich am Leben der Muslime teilhaben und auch auf den Islam zugehen. In einer Reihe von Schriften hat ihr Prior, Christian de Chergé, dieses Programm dargestellt, und ein anderer der Mönche, Christoph Lebreton, hat seine Berufung in mehreren poetischen Meditationen reflektiert, die heute nach und nach veröffentlicht werden. Auch diese Texte haben zur Bekanntheit der Mönche beigetragen. Christian de Chergé hat sogar im Ramadan gefastet und wollte islamische Gebetsweisen in das Stundengebet integrieren – was allerdings vom Konvent abgelehnt wurde.
Doch Vorsicht – für die heute, auch in kirchlichen Kreisen, verbreitete Dialogseligkeit, die so gerne das Gemeinsame der abrahamitischen Religionen hervorhebt, kann man die Mönche nicht so ohne weiteres in Anspruch nehmen. Denn ihre Haltung zum Islam steht auf dem Boden eines unzweideutigen Bekenntnisses zu Christus. Als die islamistischen Terroristen zum ersten Mal das Kloster überfielen, trat ihnen der Prior entgegen und erklärte ihnen, dass heute der Heilige Abend sei und die Geburt Christi, des Friedensfürsten, gefeiert werde. Deshalb „gezieme“ sich der Überfall nicht. So unwahrscheinlich es klingt: Der Anführer akzeptierte das und zog sich mit seinen Männern zurück.
Das führt zu einem zweiten Punkt – der Bereitschaft, notfalls das eigene Leben hinzugeben. Die Mönche waren sich völlig im klaren darüber, was ihr Bleiben bedeutete, und hatten das in einem inneren Klärungsprozeß akzeptiert. Das ist für mich das wirklich Bewundernswerte an Tibhirine. Es gibt beeindruckende Zeugnisse darüber, so z. B ein Text von Christoph Lebreton: „Wie die Flamme“: „Wie die Flamme so nackt / ihre Nacht / TRAGE / dein Kreuz - / im Schweigen / GIB / dein Blut - / LIEBE bis an den äußersten Rand des / FEUERS.“
Wer von denen, die sich heute in Dialogrunden tummeln, könnte das ehrlicherweise von und für sich sagen? Doch ohne diesen Mut ist die Gefahr der Unterwürfigkeit gegenüber einem gewaltbereiten Gegner riesengroß.
Und das führt mich zu einem letzten Punkt: Die sieben Mönche waren Franzosen. Sie entschieden sich dazu, in Algerien zu bleiben, weil das ihrer perönlichen Berufung entsprach, einer Berufung, die oft mit persönlichen Erfahrungen während des Algerienkrieges der 50er/60er Jahre zu tun hatte. Sie akzeptieren ihre Wehrlosigkeit als Bedingung für ein Opfer der Liebe. In heutigen Dialogrunden geht es um etwas anderes. Es geht um die Zukunft unseres eigenen Landes und Volkes. Kann man darüber auf der Basis der Wehrlosigkeit und Feindesliebe verhandeln?

Nachtrag: Es gibt mittlerweile auch in Deutsch einige Bücher über Tibhirine. Das neueste ist: Iso Baumer: Die Mönche von Tibhirine, Verlag Neue Stadt, 2. Auflage, 2011. Es enthält auch einige Texte der Trappisten. Trotzdem kann ich es nur bedingt empfehlen. Denn es bringt auch sehr viel „Drumherum“, natürlich zum Thema Dialog, Algerien usw., das man anderswo bessser dargestellt findet. Weniger davon und mehr über die Mönche hätte mir besser gefallen.

Autor: Jacopone

Samstag, 3. September 2011

Frau X. und Herr Z.

Frau X. ist eine Dozentin, die ich an der Uni hatte. Sie gehörte zu den wenigen Lehrern, die durch ihre charismatische Art fast jeden für sich einnehmen, und hatte ein großes pädagogisches Talent. Eine beeindruckende Frau, nicht mehr ganz jung, aber gutaussehend, sehr elegant, klug, eine Dame. Plötzlich war sie verschwunden. Sie hatte öfter gesundheitliche Probleme und kam irgendwann nicht mehr zurück. Es ging das Gerücht um, daß sie eine lebensbedrohliche Krankheit hat. Ich fragte bei der Dekanatssekretärin nach, zu der ich einen guten Draht hatte, und erfuhr, daß Frau X. wegen psychischer Probleme nicht mehr arbeiten konnte. Die Sekretärin deutete an, es hätte mit einer Trennung zu tun.

Ich schrieb Frau X. einen Brief mit Genesungswünschen. Etwa ein Jahr später nahm sie mit mir Kontakt auf, was mich sehr überraschte. Sie lud mich zu sich nach Hause ein. Als ich sie wiedersah, hatte ich nicht den Eindruck, daß sie sich verändert hatte, sie war beeindruckend, gutaussehend, charmant und hatte immer noch diese souveräne Ausstrahlung, die jedem sofort auffiel. Sie suchte meine Freundschaft, ich weiß nicht warum. Ich weiß nur, daß sie mich sehr hübsch fand und mich auch deshalb gerne in ihrer Nähe hatte. Das mag oberflächlich klingen, aber es war so.

Sie war bestimmt 30 Jahre älter als ich, aber es wirkte nicht so, als hätte sie mütterliche Gefühle. Im Gegenteil. Sehr schnell war ich in der Rolle derjenigen, die zuhört und tröstet. Ich lernte sie sehr gut kennen. Schon bald sah ich nicht mehr die beeindruckende Dame in ihr, die von den Studentinnen bewundert worden war. Sie war vollkommen kaputt, ihrem Selbsthaß ausgeliefert, von schrecklichen Verlustängsten und starken Stimmungsschwankungen gequält. Ich erinnere mich an ihre übermäßige Trauer, als eines ihrer Katzenbabies gestorben war. Und ich erinnere mich an den Punkt, auf den sie in unseren Gesprächen oft zurückkam: Er hat sie verlassen. Ihr Ehemann, den sie über alles geliebt hat und dem sie immer den Rücken freigehalten hat.

Nach ihren Erzählungen hatten sie eine ganz normale Ehe geführt. Zwei Töchter bekommen, ein Haus gebaut. Natürlich war es nach einigen Jahren nicht mehr wie am Anfang, aber da war eine tiefe Liebe und Treue, zumindest von ihrer Seite aus. Die Trennung kam für sie wie aus heiterem Himmel. Plötzlich eröffnete er ihr, daß er eine Andere liebt. Eine Jüngere. Dann war er weg. Der Klassiker eben. Ein alternder Mann, der seine Jugend zurückgewinnen will, woran ihn einzig und allein die ebenfalls alternde Frau hindert, der er leider seine Treue versprochen hatte.

Frau X. fragte sich immer wieder, was sie falsch gemacht hatte. Irgendwann kreisten fast alle unsere Gespräche um diesen Punkt. Die Trennung, die Gründe dafür. Ich war völlig überfordert, aber ich verstand, daß die Trennung ihr eine Verletzung zugefügt hatte, die nicht heilen kann.

Einige Jahre später ist unser Kontakt abgebrochen. Doch eins hatte sich mir damals eingeprägt: Das Schlimmste, was ein Mann seiner Frau antun kann, ist genau das. Sie nach einer langen Ehe wegen einer Jüngeren zu verlassen. Das Treueversprechen in schweren Zeiten zu brechen. Oder einfach nur, weil es langweilig geworden war. Weil er sich noch einmal ausleben will. Weil junge Haut und straffe Körper verlockender sind. Mir war klar, daß Männer, die sowas tun, charakterlich verkommen sind, und ich niemals etwas mit einem verheirateten Mann anfangen würde. Damals war ich noch Atheistin, doch die Gemeinheit einer solchen Handlungsweise erschließt sich auch jedem aufrechten Heiden.

Später fand ich zu der Religion zurück, die versprach, auf der Seite der Schwachen zu sein. Der Religion, die Heilige hervorgebracht hatte, die sich lieber zu Tode quälen ließen als falschen Göttern oder dem Kaiser zu opfern.

Wenn damals, in meiner atheistischen Zeit oder kurz danach, ein Bischof einen Mann, der seine Frau wegen einer Jüngeren verlassen hat, als guten Katholiken bezeichnet hätte – und dies auch deshalb, weil dieser ein hohes Amt im Staat hat; wenn ich also erfahren hätte, daß ein Bischof aus Opportunismus die unveränderbare Lehre Christi verrät, um sich den Mächtigen (und natürlich auch dem Zeitgeist) an den Hals zu werfen, dann wäre ich heute nicht katholisch. Ich hätte mich vielleicht einer evangelischen Freikirche  angeschlossen. In meiner jugendlichen Urteilshärte hätte ich Verachtung für einen solchen Bischof empfunden. Herr Z. hat zwar nicht Herrn X. als Katholiken bezeichnet, "der seinen Glauben lebt", aber einen Mann, der das Gleiche getan hat und leider das deutsche Staatsoberhaupt ist.

Feminismus hin oder her: Frauen leiden unter dem Verlust ihrer Jugend mehr als Männer. Und wenn ein Mann eine Frau, mit der er ein halbes Leben zusammengelebt hat, wie einen alten Putzlumpen entsorgt, weil er eine Jüngere gefunden hat, tut er ihr unendlich weh. Denn dadurch zeigt er ihr: Alles, was wir zusammen erlebt haben und was du für mich getan hast, kann den Verlust deiner Jugend und Schönheit nicht kompensieren. Ein solcher Mann ist egoistisch und herzlos.

Daß die Kirche unverrückbar auf der Seite dieser Frauen und aller Verlassenen ist, auch der verlassenen Männer, ist ein Trost. Schade nur, wenn irgendwelche lebensfernen alten Männer dies durch ihr verantwortungsloses Gerede verdunkeln.

Mittwoch, 31. August 2011

Untergegangene deutsche Wörter: Mietling (m.)

1 Knecht, Dienstbote
2 jmd., der gegen Vergünstigungen o. Ä. die (bes. politischen) Interessen eines anderen vertritt
(nach Bertelsmanns Wörterbuch)

"Was fragt ein Mietling nach dem Königreich, das nie sein Eigen sein wird?"
(Schiller, Don Karlos)

Sonntag, 31. Juli 2011

Dialogprozeß

Das Wort selbst verursacht mir schon Ekel, und erst recht, wenn es mit der Kirche in Zusammenhang gebracht wird: weil hier das Höchste mit dem Banalen, Abgeschmackten und Hohlen vermischt wird, die wichtigsten Fragen überhaupt, nach Gott, Erlösung, Glauben und der Gestalt der Kirche, in die üblichen billigen Dialog- und Betroffenheitsfloskeln gefaßt werden. Die Sprache ist natürlich verräterisch, und man fragt sich, ob die Vertreter der Kirche, die bei dieser Veranstaltung mitmachen, diese überhaupt ernstnehmen. Wäre es vorstellbar, daß Vertreter des Islam mit Gläubigen im Stuhlkreis diskutieren? Und dabei den Anschein erwecken, als stünden auch Glaubenswahrheiten zur Disposition? Natürlich nicht, denn der Islam nimmt sich selbst ernst. Eine weitere Frage, die man sich stellen muß: Welches Ziel wird dabei verfolgt? Nach allem, was ich bisher darüber gelesen habe, kommen vor allem jene Vertreter gestrigen Denkens zu Wort, die seit gefühlten 200 Jahren ihre Forderungen in Dauerschleife wiederholen. Was soll dabei herauskommen? Möglichkeit 1, überflüssig, ineffizient und teuer: "Okay, ihr seht das so, aber Rom sieht das anders, trotzdem schön, daß wir fünf Jahre darüber geredet haben." Möglichkeit b, unerfreulich, teuer, aber leider auch konsequent: "Okay, wir machen jetzt unseren eigenen Laden auf."

Wie dem auch sei: Der normale Laie, das gläubige, kirchentreue Fußvolk kommt nicht zu Wort, sondern nur die üblichen politisierenden Pöstcheninhaber und Gremienhocker. Für eine Reform der deutschen Kirche wäre ich freilich auch und hätte sogar ein paar Vorschläge:

- Unternehmensberatung in die Bistumsverwaltungen,Verbände und katholischen Bildungseinrichtungen, überflüssige Posten abbauen
- das eingesparte Geld in sinnvolle Maßnahmen stecken: Man könnte z.B. Fachkräfte einstellen, die den Pfarrern die Verwaltungsarbeiten abnehmen, damit diese mehr Zeit für die Seelsorge haben
- illoyale Mitarbeiter durch solche ersetzen, die zu der Lehre der Kirche stehen

Wenn die Kirche ein Unternehmen wäre, hätte ich ja noch folgenden Vorschlag: den Deutschland-Chef und einen Teil der Geschäftstführer ablösen. Aber das wäre jetzt sicher respektlos.

Samstag, 30. Juli 2011

Was die Linken besser können

Sich vernetzen. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, obwohl ich nie eine richtige Linke war. Sondern bloß so wie alle, ein bißchen linksliberal, ein bißchen engagiert, ehrgeizig, einverstanden mit dem Mainstream, ansonsten eher unpolitisch. Doch das hat gereicht. Denn wer ungefähr das Richtige denkt, findet seinen Platz. Wer ein bißchen Talent hat, findet sogar leicht einen guten Platz. Ich bekam Stipendien, tolle Praktikumsplätze, verdiente mit Anfang 20 neben dem Studium recht gut mit Zeitungsartikeln und schrieb später für verschiedene große Redaktionen. Zurückblickend weiß ich, daß es ein Netzwerk gab, das mich trug. Ich kam immer weiter, alles erschien durchlässig. Klar ist auch: Im Journalismus und im gesamten Bildungsbereich ist den Linken der Marsch durch die Institutionen bestens gelungen. Dort liegt alles in ihrer Hand. Sie haben viele Pfründe zu verteilen und können sich auf diese Weise immer weiter ausbreiten. Davon habe auch ich profitiert.

Doch dann kam der Bruch, denn ich habe zum katholischen Glauben zurückgefunden. Natürlich habe ich nicht von einem Tag auf den anderen alle meine Kontakte verloren. Von manchen profitiere ich noch heute. Manche Freundschaften sind zu Ende gegangen, weil die gemeinsame Basis nicht mehr da war. Doch mein Problem war: Ich verdiente mein Geld mit Schreiben. Mit Ideen. Als meine Ideen sich änderten, waren sie nicht mehr gefragt. Man bekommt nur einen Platz, wenn man das Richtige sagt. Ein Grund zu verzweifeln ist das freilich nicht. Es gibt schließlich noch andere und wahrscheinlich sogar ehrbarere Berufe als den des Journalisten oder des Hochschulgermanisten, und es schadet nicht, sich manchmal neu zu orientieren.

Aber das journalistische Schreiben wollte ich nicht ganz lassen. Ich hatte am Anfang die Idee, ich könnte mein Wissen und mein journalistisches Können nutzen, um etwas für die Kirche zu tun. Natürlich habe ich nicht erwartet, daß es dort einen großen Markt für Texte gibt. Es ging mir auch nicht ums Verkaufen. Ich wollte einfach nur was Sinnvolles tun, doch eine Möglichkeit dazu zu finden, erwies sich als sehr zähes Unterfangen. Während im linksliberalen Milieu jeder gerne gesehen ist, der ungefähr die richtige Position vertritt und jedes Angebot, etwas für die gute Sache zu tun, mit Freuden angenommen wird, erlebte ich hier das Gegenteil: untereinander zerstrittene Grüppchen, ein Milieu, das in sich abgeschlossen wirkt und von tiefem Mißtrauen Außenstehenden gegenüber geprägt ist – was sich sicher damit erklärt, daß es immer mehr an den Rand gedrängt wird. Da ich aus einem anderen Umfeld kam, war mein Blick scharf für die Unterschiede. Vieles verlief anders, als ich es gewohnt war. Während ich sonst auf Tagungen leicht mit Leuten ins Gespräch komme, erlebte ich z.B. auf einem katholischen Kongreß, wie es ist, unter Menschen richtig allein zu sein. Meine Versuche, mit kleineren katholischen Vereinen in Kontakt zu treten, weil ich gerne geholfen hätte, waren fruchtlos. Ich habe fünf Jahre lang mehrmals in der Woche in einer Gemeinde die Heilige Messe besucht, ohne daß mich irgendjemand angesprochen hätte. Klar, ich habe ab und zu mal jemanden angesprochen. Aber wieso gibt es in katholischen Gemeinden niemanden, der Neue begrüßt? In jeder Freikirche gibt es dafür ganze Teams. Wieso freut man sich nicht, wenn jemand helfen will? Ich habe es mir irgendwann damit erklärt, daß es an mir liegt: Wahrscheinlich fehlt mir der Stallgeruch, ist mein Habitus einfach nicht katholisch genug.

Was soll's. Zuletzt habe ich eine Möglichkeit gefunden, etwas für die Kirche zu tun. Da war viel glückliche Fügung dabei. Vielleicht hat es auch einfach nur seine Zeit gebraucht, wenn auch eine sehr lange Zeit. Den Wunsch, Anschluß an eine Gemeinde zu finden, habe ich nicht mehr. Ich gehe sonntags in die Alte Messe und ab und zu unterhalte ich mich mit einem netten und klugen älteren Herrn. Es ist schön, dafür bin ich dankbar.

Vielleicht machen Andere, die zur Kirche finden, andere Erfahrungen als ich, das würde ich mir wünschen. Dennoch: Ein bißchen was von den Linken abgucken könnte man sich schon.

Sonntag, 24. Juli 2011

Ehe als Privileg

Vor kurzem war ich mit einer Freundin in einer Gemäldeausstellung. Ihr fiel auf, daß auf mittelalterlichen Gemälden die körperlichen Proportionen nicht stimmen: Kinder mit den Körpern kleiner Erwachsener, völlig aus den Fugen geratene Körperformen. Sie führte dies darauf zurück, daß die Maler im Mittelalter zu prüde waren, sich nackte Menschen anzusehen und deshalb nicht wußten, wie Körper aussehen. Sie hatte sich freilich nie mit dem Mittelalter beschäftigt, nur die Denkfigur war da: Der glorreichen Ungezwungenheit unserer Tage steht ein düsteres, zwanghaftes Mittelalter gegenüber. Das Fortschrittsparadigma führt eben zu einer selektiven oder verdrehten Wahrnehmung der Vergangenheit. 
Doch sicher pflegt jeder falsche Vorstellungen über die Vergangenheit. Das, was zurückliegt, eröffnet einen unendlichen Raum für Projektionen – gleichgültig, ob man auf düstere oder goldene Zeiten zurückblicken möchte.
Mir sind häufig religiöse Menschen begegnet, die denken, früher hätten fast alle früh geheiratet. Wer ehelos blieb und sich nicht für ein Ordensleben oder das Priestertum entschied, sei ein Außenseiter, eine bedauernswerte, kauzige oder halb komische Figur gewesen. 
Freilich gab es zu allen Zeiten Gesellschaften, in denen eine frühe Heirat gefordert wurde oder erwünscht war. Es gibt sie auch heute. Doch ganz so einfach war es mit dem Heiraten früher nicht. Von der Obrigkeit erlassene Ehebeschränkungen waren bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Regel. Oft war zum Beispiel die Heirat mit Ortsfremden verboten oder der Nachweis eines Mindestvermögens oder eines bestimmten beruflichen Status notwendig. Das führte dazu, daß viele Menschen ledig blieben oder erst spät heirateten. Das Vorhandensein vieler Singles ist also kein Exklusivmerkmal westlicher Metropolen unserer Zeit. Es gab durchaus Zeiten, in denen es ein Privileg war, heiraten zu dürfen ...
Doch waren auch die Vorstellungen von Ehe anders als heute. Lange Zeit war sie in erster Linie eine wirtschaftliche oder dynastische Angelegenheit. Die Vorstellung, daß Liebe, Ehe und Sexualität untrennbar zusammengehören und die Liebe den familiären Zusammenhalt begründet, wurde erst im ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem im aufstrebenden Bürgertum populär. Erst da bekam das Gefühl der Liebe den Status, den es heute hat. Eheliche Liebe wurde zur Herzensangelegenheit. Dabei entstanden neue Zwänge: Das Gefühl, unberechenbar und diktatorisch wie es ist, übernahm die Herrschaft. Doch ein flüchtiges Gefühl kann keine Beständigkeit garantieren, und überall lauert die Gefahr schwerer emotionaler Verletzungen. 
Wie dem auch sei: Es kann sehr schwer sein, einen Ehepartner zu finden. Gründe gibt es viele: Man findet niemanden, wird immer wieder verlassen, hält sich nicht für liebenswert, andere halten einen nicht für liebenswert, man ist zu attraktiv oder zu unattraktiv, zu anspruchsvoll oder zu kompromißbereit, zu zurückhaltend, zu kompliziert, zu ängstlich, hat kein großes Interesse an sexueller Betätigung, keine Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, zuviele schlechte Erfahrungen gemacht, ist nur Menschen begegnet, die vollkommene Übereinstimmung suchen. Oft hat man es nicht in der Hand, und selbst eine jahrelange Parship-Mitgliedschaft bietet keine Garantien. Und wer verzweifelt sucht, so lautet die Regel, findet erst recht nicht. Man braucht auch ein bißchen Glück. Und letztlich: Wenn man einen Partner findet, ist das ein Geschenk. Einen Anspruch darauf hat man nicht.
Auf katholischen Veranstaltungen, gerade aus dem sogenannten neokonservativen Spektrum, sehe ich oft viele kinderreiche Familien. (Ich vermute, daß es bei den Traditionalisten ganz ähnlich ist.) Aus meiner Single-Sicht also: reich Beschenkte. Diese wecken oft den Eindruck, daß sie unter sich bleiben wollen, sich nur mit anderen Müttern oder Vätern austauschen wollen. Das verstehe ich, denn wahrscheinlich haben sie in ihrem Lebensumfeld nicht so viel Gelegenheit zum Austausch. Nur würde ich mir wünschen, daß man mich mit dem Klischee vom hedonistischen Single-Leben verschont. Das höre ich einfach zu oft: Singles seien egoistisch, denken nur an Spaß, tun nicht Gottes Willen. Oder man müsse einfach mehr beten, dann wird es schon klappen. 
Doch daß Gott alle Wünsche erfüllt, wäre mir neu. Daß er die, die ihn lieben, mit einem wohlanständigen Familienleben belohnt ebenfalls. Gott ist nicht dazu da, die Glücklichen noch glücklicher und die Erfolgreichen noch erfolgreicher zu machen.
Ich habe schon oft gehört, daß Menschen sich nur in der Liebe verwirklichen können – in der Liebe zu einem Ehepartner oder zu Gott (und mit Liebe zu Gott ist dann in der Regel eine religiöse Berufung gemeint). Das mag sein. Aber in einer gefallenen Welt haben eben nicht alle die Möglichkeit, ihre Bestimmung zu verwirklichen. Im Gegenteil: Die Wenigsten haben diese Möglichkeit. Wieviel Prozent der Menschen führen denn ein Leben, das dazu lang genug ist?
Man muß das nicht begreifen, aber man muß es akzeptieren. Man kann darauf hoffen, getröstet zu werden. Doch wenn das so ist, kann es auch nicht entscheidend sein, daß man sich ein bürgerliches Familienidyll errichtet und auf diese Weise sein gottgefälliges Leben unter Beweis stellt. Es ist schön, wenn man so reich beschenkt wird. Aber entscheidend ist nur der Glaube an Christus.

Samstag, 16. Juli 2011

Der letzte Kaiser

Heute ist in Wien Otto von Habsburg beigesetzt worden. Er hat die Kaiserkrone nie getragen, und doch hat ihn zeitlebens so etwas wie eine Aura, ein Abglanz der Kaiserwürde umgeben – und das nicht nur, weil er noch in die letzten Jahre der Donaumonarchie hineingeboren wurde. Auch im Zeremoniell der Beisetzung ist die Idee des Kaisertums noch einmal lebendig geworden. Christen, Juden und selbst Muslime haben an seinem Sarg gebetet – eine Vision der Einheit, die an den tiefsten Kern der Kaiseridee erinnert: nicht die Herrschaft einer Nation über andere, sondern die Einheit der Völker in einem gemeinsamen Glauben. Das Anklopfen an der Pforte des Kapuzinerklosters erinnert an zwei Elemente, die für das alte, monarchische Europa konstitutiv waren: Das Bewußtsein für Rang und Würde einerseits – deshalb wurden seine Ämter und Würden alle noch einmal aufgezählt –, die Demut andererseits: Nur als „Otto, ein sterblicher Mensch“, durfte er die Pforte überschreiten. Eines kann ohne das andere nicht sein: Wo alle gleich sind oder sein sollen, da verliert auch die Demut ihren Sinn. Doch wo keine Demut ist, schwindet am Ende auch die Menschlichkeit.
Fast hundert Jahre ist Otto von Habsburg alt geworden, ein wahrer Zeuge des Jahrhunderts. Doch war er viel mehr als ein lebendes Relikt der Vergangenheit. Er hat gegen die großen Verbrechersysteme seines Jahrhunderts gekämpft, gegen Nationalsozialismus und Kommunismus. Als Hitler den Anschluss Österreichs plante, wollte er sich an die Spitze des Landes stellen und das Volk zum Widerstand aufrufen. Das war vielleicht unrealistisch, vielleicht aber auch nicht, auf jeden Fall aber sehr mutig. Die Geschichte hätte anders verlaufen können, wenn es gelungen wäre. Um so berührender ist es, dass sein Name auch mit dem Ende des Kommunismus verbunden ist: mit dem berühmten Paneuropa-Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze, das er mitorganisierte und das das erste Loch in den Eisernen Vorhang riss. Und damit auch den ersten Stein aus der Berliner Mauer löste. Wer ein bißchen Sinn für geschichtliche Zusammenhänge hat, ist fast schon gezwungen, darin so etwas wie Fügung zu erkennen.
Dieser freundliche ältere Herr, der so viele Sprachen fließend beherrschte und mit so vielen Völkern verbunden war, hat noch einmal die Werte verkörpert, die den Glanz Europas ausmachen. Wenn ich mir einen Kaiser wünschen könnte, dann müsste er wohl so sein wie Otto von Habsburg. Der Dichter Franz Grillparzer, der über die historische Mission der Habsburger viel nachgedacht hat, hat den Sinn der Monarchie einmal so beschrieben: Nicht „in Voraussicht lauter Herrschergrößen ward Erbrecht eingeführt in Reich und Staat. Vielmehr nur: weil ein Mittelpunkt vonnöten, um den sich alles schart, was gut und recht und widersteht dem Falschen und dem Schlimmen, hat in der Zukunft zweifelhaftes Reich den Samen man geworfen einer Ernte.“ In diesem Sinn ist Otto von Habsburg wirklich ein Monarch gewesen.
Und wer wirft nun den Samen in die zweifelhafte Zukunft, die uns bevorstehen mag?