Samstag, 2. April 2011

2. April 2005

Vor sechs Jahren ging ein Zeitalter zu Ende. Ich schrieb gerade Mails, der Fernseher lief nebenbei. "Wetten dass" wurde abgebrochen, denn der Papst war tot. Es gab eine Liveschaltung zum Petersplatz, die Kommentatorin war völlig überfordert. Ein Kameraschwenk zu der Menge, die Menschen, die gerade die Todesnachricht erhalten hatten, weinten und applaudierten. Anne Will führte ein Interview, ich weiß nicht mehr mit wem, und erklärte, daß dieser Papst ja nicht unumstritten war, wegen Zölibat und Aids. Es verletzte mich, in diesem Moment das übliche dumme Gequatsche zu hören. Ich öffnete das Fenster, weil ich dachte, es müßte Glockengeläut zu hören sein. Draußen war alles still. Ich weinte. Auch in meinem Leben war etwas zu Ende gegangen. In einem Leben, in dem es noch keinen anderen Papst gegeben hatte. Ein Freund, der Theologie studiert hatte, versuchte mich damit zu trösten, daß ein Papst zwar sterben kann, das Papsttum aber bleibt. Er hatte noch mehr geweint als ich.

Am 3. April ging ich früh am Morgen in den Mainzer Dom. Dort stand ein Foto mit Trauerband, davor lagen Blumen. Johannes Paul II. lächelte auf dem Bild. Einige Gläubige knieten sich hin oder verbeugten sich, eine Frau küßte das Bild. Ich dachte, auch ich will mich verabschieden, mit irgendeiner Geste. Küsse, Verbeugungen oder Kniebeugen, das paßte nicht zu mir. Ich blieb eine Weile stehen, und dann nickte ich ihm bloß zu. Der Abschied tat weh.

Eine Bekehrungsgeschichte

Wir gingen in der Grundschule in eine Klasse, waren danach noch befreundet, haben uns nach dem Abitur aus den Augen verloren und vor kurzem wiedergetroffen. Julia, so nenne ich sie jetzt, hat immer alle ihre Ziele erreicht. Sie ist ehrgeizig und klug, hat ein Faible für Mathematik und den Verstand eines Ingenieurs. Sie urteilt nie schnell und denkt über jeden Aspekt eines Problems gründlich nach. So neigt sie nicht zu extremen Positionen. Eine rebellische Phase hatte sie nie. Aber sie hatte immer einen Plan für ihr Leben, ein Ziel, wußte, wo sie hinwollte. Das alles hatte ich nicht, aber jetzt geht es um sie.

Nach dem Einser-Abitur studierte sie sehr schnell, absolvierte ein Auslandssemester und zahlreiche Praktika. Sie fand nach dem Abschluß sofort eine Stelle, arbeitete viel und machte Karriere. Sie hatte immer einen Freund. Als eine langjährige Beziehung zerbrach, fand sie schnell einen neuen Partner. Sie kaufte sich eine Wohnung, verreiste oft, lief Marathon, konnte sich alles kaufen, was sie wollte. Sie gab viel Geld für Business-Kleidung aus. Ihr Besitz wuchs an, gleichzeitig die finanziellen Verpflichtungen. Sie trat aus der evangelischen Kirche aus, weil sie keine Kirchensteuer zahlen wollte. Damals war sie religiös indifferent, die Frage nach Gott kam in ihrem Leben nicht vor. Sie hatte keine Zeit dafür.

Irgendwann kam ein Kind. Es war ungeplant, aber das warf Julia nicht aus der Bahn. Ich weiß nicht, wie sie sich gefühlt hat, als sie schwanger wurde. Ich vermute, daß sie alles genau durchgerechnet und geplant hat, denn so ist sie. Ihre Tochter Lilli kam zur Welt. Nach der Geburt stieg Julia so schnell wie möglich wieder in den Beruf ein, Vollzeit. Natürlich dachte sie nicht daran, Lilli taufen zu lassen, denn sie war ja aus der Kirche ausgetreten. Und dann heißt es ja auch immer, man soll Kindern den Glauben nicht aufdrängen.

Das Leben wurde noch anstrengender. Die Tage gehörten dem Job, die Abende und Nächte und Wochenenden dem Baby. Sie brachte Lilli morgens in die Kita und hatte dabei das Gefühl, daß das alles richtig ist oder, genauer: daß eine Frau es nur auf diese Weise richtig machen kann. Daß die Gesellschaft das von ihr erwartet: Vollzeit arbeiten und ein Kind haben und immer alles geben. Julia war in den nächsten Jahren oft am Rande völliger Erschöpfung.

Sie hätte vielleicht so weitergemacht, aber ihr fiel auf, daß Lilli sich veränderte. Wenn sie sie abends aus der Kita abholte, war sie überdreht und unruhig. Am Wochenende war Lilli anders, gelassener, glücklicher. Da spielte Julia mit ihr, machte mit ihr Ausflüge, war ganz für sie da. Die Beziehung zu Lillis Vater, eine Wochenendbeziehung, war zu diesem Zeitpunkt längst zerbrochen. Lilli wurde immer nervöser und aggressiver. Als Julia nach der Ursache forschte, wurde ihr klar, daß Lilli sie braucht. Daß sie Lilli zu wenig Platz in ihrem Leben einräumte, obwohl sie für sie doch das Wichtigste war. Sie dachte nach und prüfte alle Möglichkeiten. Dann nahm sie ihr Elternjahr, Lilli war da drei Jahre alt.

In den ersten Monaten war Julia sehr müde. Sie merkte, daß auch sie selbst dieses Jahr brauchte, um innerlich zur Ruhe zu kommen. So erschöpft war sie. Sie und Lilli, sie mußten beide wieder ihr inneres Gleichgewicht finden, sagt sie. Erst wieder zu Kräften kommen, dann überlegen, wie es weitergeht. Ihr wurde klar, daß sie nicht mehr so leben wollte wie vorher. Sie wollte miterleben, wie Lilli groß wird.

Lilli kam bald in die Phase, in der Kinder ihre Eltern von morgens bis abends mit Fragen löchern und alles genau wissen wollen. Warum regnet es? Warum ist der Mann da so dick? Warum ist es nachts dunkel? Wo ist der Mond, wenn es hell ist? Geht das Sandmännchen schlafen? Und natürlich kam irgendwann die Frage: "Wer hat die Welt gemacht?"

Da mußte Julia wieder abwägen. Denn sie wußte ja selbst nicht, was sie glauben sollte. Der Urknall oder Gott? Über solche Fragen dachte sie sonst nicht nach. Überhaupt, sollte sie Lilli von Gott erzählen? Man soll einem Kind den Glauben nicht aufdrängen, dachte sie, aber ihm Wissen vorzuenthalten, wäre auch falsch. Letztlich entschied sie sich für die Antwort, die sie als besonders kindgerecht empfand und die ihr in diesem Moment, nach langem Nachdenken, gar nicht so unwahrscheinlich vorkam: nicht etwa "Das Universum ist durch den Urknall entstanden", sondern: "Der liebe Gott hat die Welt gemacht."

Julia merkte schnell, daß sie aus dieser Nummer nicht mehr herauskam. "Wer ist der liebe Gott?" "Warum hat er die Welt gemacht?" "Kann man mit ihm reden?" "Wo wohnt er?" "Wann gehen wir ihn besuchen?" Lilli wollte mit Gott reden. Also beschloß Julia, vor dem Schlafengehen mit ihr zu beten. Sie sagte sich, ein solches Ritual, das dem Tag eine Struktur gibt, kann nicht schaden.

Sie beteten jeden Abend, und Julia merkte, daß es Lilli beruhigte. Julia fing an, sich über den Glauben zu informieren, um Lilli besser antworten zu können. Denn Lilli hörte nicht auf zu fragen. Die Sache mit Gott interessierte sie.

Dann kam jener Moment, der sich jeder  Analyse, jedem Kalkulieren und Abwägen entzog. Nach dem Abendgebet hatte Julia auf einmal den Gedanken: "Ich glaube an Gott."

Mehr war da nicht, keine Erschütterung, kein plötzlicher Umbruch, keine großen Gesten oder Bilder, sondern nur eine leise Stimme in ihr. Diese Bekehrung löste keine Lebenswende aus, denn Julia hatte schon längst, in kleinen Schritten, ihr Leben geändert. Nach dem Elternjahr arbeitete sie halbtags, Lilli ging in den Kindergarten. Geld und Karriere sind für Julia nicht mehr so wichtig. Sie will lieber bei ihrem Kind sein, mehr lesen, sich Wissen aneignen, Zeit haben, um nachzudenken und für andere da zu sein. Sie sucht nach der Wahrheit und stellt sich nun dieselben Fragen wie Lilli. Julia ist wieder in die evangelische Kirche eingetreten. Lilli wurde vor kurzem getauft. Sie hat verstanden, was da passiert, und hat sich gefreut.