Mittwoch, 18. November 2009

Atwood

Margaret Atwood wird heute 70, und ich nehme an, daß das vom Feuilleton entsprechend gewürdigt wird. Die Schriftstellerin, Feministin und Umweltaktivistin hat ja immer viel Lob bekommen. „Der Report der Magd“ ("The Handmaid's Tale", 1985, dt. 1987) war ihr großer Wurf, sie stieg beinahe über Nacht zur Starautorin auf und wurde zu einer Ikone der Feministinnen, einschließlich meiner Deutschlehrerin. Wir lasen das Buch Anfang der 90er im Deutschunterricht. Schullektüren verblassen in der Erinnerung oft schnell, und so blieben mir nur wenige Szenen im Gedächtnis, junge Frauen in einem Gemeinschaftsschlafsaal, sadistische Aufseherinnen und die merkwürdigen Hauben, die die Frauen in Atwoods Amerika der Zukunft, der Republik mit dem biblischen Namen Gilead, tragen mußten. Besonders beeindruckt hat mich das Ganze nicht.

Auch nicht nach der zweiten Lektüre, vor einigen Monaten: Das Buch kam mir langatmig und larmoyant vor. „Der Report der Magd“ wird oft zu den großen negativen Utopien des 20. Jahrhunderts gezählt, wie George Orwells „1984“ und Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“. Zu Unrecht, finde ich. Orwells und Huxleys Entwürfe wirken beklemmend. Die beiden Schriftsteller griffen Tendenzen ihrer Gegenwart auf, dachten sie weiter und formten daraus eine Zukunft, die plausibel erschien „Der Report der Magd“ wirkt im Vergleich dazu eher paranoid, als wäre der Roman dem Albtraum jener Feministinnen entsprungen, die seit langen Jahren vor einem antifeministischen Backlash warnen.

Worum es in dem Buch geht: Eine fundamentalistische Sekte hat sich in Amerika an die Macht geputscht und eine Terrorherrschaft errichtet. Frauen werden brutal unterdrückt. Ich-Erzählerin Desfred hat alles verloren: Mann und Tochter, Beruf und Besitz . Sie dient dem Kommandanten Fred als Zwangskonkubine, ihre Aufgabe ist es, für ihn und seine Ehefrau Kinder auszutragen. Nur noch wenige Frauen sind fruchtbar, weite Landstriche als Folge atomarer Verseuchung unbewohnbar, die Strände voller Giftmüll.

Damit das Schreckensbild von Amerikas Zukunft möglichst viel Eindruck macht, wird ihm in ausufernden Rückblenden das rundum glückliche Leben der Heldin in der Vergangenheit gegenüber gestellt. Dieses Erzählverfahren wirkt nicht nur holzschnittartig, sondern wirft auch zwingend die Frage auf, wie es dazu eigentlich kommen konnte: Daß sich innerhalb weniger Monate eine Gesellschaft, die unserer nicht unähnlich ist, in eine streng abgeschirmte Theokratie verwandelte. Atwood versucht es mit einer Verschwörungstheorie. Die „Söhne Jakobs“, eine bisher weitgehend im Verborgenen agierende Sekte, erschießen alle Mitglieder des Kongresses und unterjochen die Bevölkerung mit Hilfe ihrer eigenen Armee. Den Weg in die Diktatur beschreibt die Autorin nur flüchtig.

Trotz dieser erzählerischen Schwächen machte das Buch die Autorin über Nacht berühmt, es eroberte schnell die Bestsellerlisten. Es traf wohl den Nerv der Zeit. Der Spiegel nahm den Roman mit Begeisterung auf, beschrieb Atwood doch mit Blick auf Chomeinis Iran die drohende „Machtergreifung christlicher Eiferer in den USA“, die „der permissiven Amüsiergesellschaft vom Ende des 20. Jahrhunderts den Garaus machen“ wollen. Die amerikanische Kritik urteilte ebenfalls überwiegend wohlwollend, wenn auch ausgewogener (z.B. Mary McCarthy in The New York Times Review of Books). Denn aus der Nähe betrachtet erschienen Atwoods Warnungen vor einem von Christen geplanten Putsch weitaus weniger plausibel, als es das ferne Europa voller Angstlust herbeiträumte.

Das Buch war erfolgreich, weil es der Autorin gelungen ist, viele der in den 80er-Jahren verbreiteten Ängste zu verschmelzen und in Romanform zubringen: Angst vor Krieg, Terror, einem atomaren Inferno, einer ökologischen Katastrophe und natürlich die Angst der atheistischen Linken vor einem Wiedererstarken der Religion, vor dem mit albtraumhaften Bildern gewarnt wird. So artikuliert sich in dem Roman auch die alte Sorge, daß das Verdrängte zurückschlagen könnte. Daß es unter der schönen Fassade des linksliberalen juste milieu, der Frauenbuchläden-Wunderwelt gären könnte und die Lebensentwürfe der progressiven Linken, die von Politik und Medien propagiert werden, irgendwann einfach hinweggefegt werden. Atwood hat Erfolg, weil sie diese Ängste in Geschichten kleidet. Sie schürt Panik und konstruiert eine gigantische Drohkulisse. So besteht die Religion von Gilead, wie Atwood sie beschreibt, aus entleerten Ritualen ohne Heilsversprechen, aus Zwang und Grausamkeit ohne Nächstenliebe. Religion, so wird suggeriert, führe zu Unfreiheit. Und auf diese Weise schreibt Atwood weiter an dem immer wieder beschworenen Mythos von den religiösen Dunkelmännern - ein Verfahren, das oft angewandt wird, um die Anliegen religiöser Menschen zu diskreditieren. Als Warnung vor Religion wurde ihr Buch leider oft genug rezipiert. Aber immerhin: Die Vorstellung, daß es in Gilead eine baptistische Guerilla gibt, ist ja doch recht charmant.

Wie dem auch sei: Der Siegeszug des Buchs war nicht aufzuhalten, und Margaret Atwood gilt heute als die bedeutendste Autorin Kanadas. Ihre Romane, Erzählungen und Gedichte gehören an amerikanischen Universitäten zur Pflichtlektüre in "Women's Studies". 2003 begeisterte sie die Kritiker mit einem Roman über den Klimawandel. In „Oryx und Crake“ (2003) erzählt sie den Weltuntergang aus der Perspektive des einzigen Überlebenden. Die Menschheit wurde von einem Killervirus dahingerafft, und Atwoods Held muß auf einem Baum sitzen, weil er von genetisch veränderten Schweinen gejagt wird. Nebenbei warnt die Autorin vor Entstaatlichung, dem freien Markt und dem technischen Fortschritt – eine Mixtur mit Erfolgsgarantie. Ihr Gespür für den Zeitgeist und für Themen, die die Kasse klingeln lassen, hat sie also auch im reiferen Alter nicht verloren. Man wird wohl noch von ihr hören.

Dienstag, 17. November 2009

Schwedenkrimis

Wenn ich krank bin, greife ich immer zu Krimis, und mir ist nicht ganz klar warum. Womöglich stimmt es mich zuversichtlich, wenn am Ende der Täter gefaßt wird - dann werden gewiß auch die Grippeviren ihren Häschern nicht entgehen. Wie dem auch sei: Schwedenkrimis fand ich früher gut, heute zum Davonlaufen.

Früher heißt: als ich Anfang 20 war, immer schwarzgekleidet (aber mit dunkelrot gefärbten Haaren), und fürs Philosophiestudium "Das Sein und das Nichts" und Simone de Beauvoir gelesen habe. Die verregneten Landschaften und graugefärbten Gemütslagen der Schwedenkrimis paßten zu meiner existentialistischen Weltsicht. Ich mochte diesen ganzen Wallanderkram, die depressiven, fetten, geschiedenen Ermittler mit Cholesterin- oder Alkoholproblemen und sogar diese dröhnende Gesellschaftskritik, die diese Bücher so furchtbar klebrig macht. [Also: Es geht immer um Fremdenfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit, Umweltverschmutzung, Atomkraft. Der Täter ist ein Nazi. Außer er ist eine Frau oder Vertreter einer Randgruppe, dann ist die Gesellschaft schuld. Linke sind gut. Männer haben einen angeborenen Defekt undsoweiter.]

Heute finde ich das alles so inspirierend wie ein Billy-Regal. Mit einer Ausnahme allerdings: Håkan Nesser. Seine Van Veeteren-Reihe mag ich noch immer. Aber die spielt auch nicht in Schweden, sondern in einem fiktiven Land, und der Kommissar hat einen ziemlich düsteren Charakter. Nesser läßt seinen Figuren ihre Ambivalenzen, er interessiert sich mehr für die menschliche Natur als für Sozialkritik.

Kürzlich habe ich Nessers Barbarotti-Romane gelesen. Der erste ("Mensch ohne Hund") enttäuschte mich, den zweiten ("Eine ganz andere Geschichte") - einen klassischen Whodunnit - fand ich genial. Der dritte ("Das zweite Leben des Herrn Roos") hat mich berührt. Nesser beschreibt, wie ein Sonderling, ein Mann, der von allen in die Rolle des Langweilers gedrängt wurde, mit 59 Jahren zu einem neuen Leben erwacht und zum ersten Mal liebt.

Sein Held, Ante Valdemar Roos, empfindet sein Leben als trostlos. Er arbeitet in einer Firma, die nur Thermoskannen herstellt und ist unglücklich in seiner Ehe. Er gewinnt im Toto und seilt sich ab, kündigt seinen Job und verbringt seine Tage in einer einsamen Waldhütte. Bald begegnet er Anna, einem drogensüchtigen, von allen mißverstandenen Mädchen, das nach einem Drogenentzug aus dem Heim weggelaufen ist.

Das Schöne ist, daß Nesser der Freundschaft zwischen den beiden ihre Zweideutigkeiten läßt: Behutsamkeit trifft auf Selbstsucht, zwei Einsamkeiten treffen aufeinander, und Herr Roos entwickelt eine Blindheit, die Anna in große Gefahr bringt. Und doch wird dabei deutlich, wie sehr eine Freundschaft einen Menschen verändern kann, und so gesehen ist der dritte Roman der Barbarotti-Reihe beinahe eine Bekehrungsgeschichte: Ein verhärtetes Herz wird immer weicher. Der Mordfall spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Mit dem Ermittler, Inspektor Barbarotti, kann ich mich allerdings gar nicht anfreunden. Da tappt Nesser leider in die Schwedenkrimi-Falle. Barbarotti erinnert viel zu sehr an Wallander: geschieden, leidenschaftslos und zutiefst darüber betroffen, daß er als Mann leider diesen gewissen emotionalen Defekt hat. Vertrottelt ist er auch: Gerade ist er vom Dach in eine Schubkarre gefallen und hat sich den Fuß gebrochen. Nesser sollte mal probieren, wie die Barbarotti-Reihe ohne Barbarotti wäre.