Das heutige Mittelalterbild ist noch immer bestimmt von Klischees, die aus der Aufklärungszeit stammen: finster, irrational, blutig. Die Schriften mittelalterlicher Autoren stehen dazu meist in auffallendem Widerspruch. Das gilt auch für Hildegard von Bingen, jene Nonne aus dem 12. Jahrhundert, die heute als Gewährsfrau für vieles, was ihr fremd gewesen wäre, in Anspruch genommen wird, sei es Feminismus oder Esoterik . Ihre Werke entziehen sich solchen Vereinnahmungen, schon deshalb, weil ihr Denken auf heutige Leser fremd und unzugänglich wirkt. Ihre auf Visionen begründeten Schriften "Scivias", "Liber Vitae Meritorum" und "Liber Divinorum Operum" fügen sich zusammen zu einer philosophisch-theologischen Gesamtschau, einen großen Entwurf über Gott und den Menschen. Wer sich Zeit nimmt, um sich in diese Werke zu vertiefen, wird Ungewohntes entdecken, Ergreifendes, und womöglich beeindruckt sein von dem hohen Menschenbild, das Hildegard vertritt: Sie feiert die Größe des Menschen, der von Gott geschaffen wurde als Krone der Schöpfung, als sein Wunderwerk und Spiegel des ganzen Universums. Und aus seiner Größe ergibt sich eine besondere Verantwortung: Er muß versuchen, sich für den rechten Weg zu entscheiden.
Ideen gehen dem Handeln voraus. Deshalb spielt es eine große Rolle, ob eine Zeit den Menschen für groß oder klein hält. Ein Blick in die Gegenwart stimmt deshalb nachdenklich. Als Leitbild gilt nicht mehr der Mensch als Geschöpf Gottes, als Leitwissenschaft nicht mehr die Theologie, sondern die Hirnforschung, die mit Argumenten aus der Mottenkiste und flankiert von hysterisch-begeisterten Feuilleton-Artikeln zu beweisen versucht, daß der Mensch unfrei sei: Alles Denken gehe auf materielle Prozesse im Gehirn zurück. Dazu Manfred Lütz: ""Natürlich ist das Gehirn ein Organ, in dem materielle Prozesse stattfinden. Und das ist Voraussetzung dafür, daß gedacht werden kann. Aber die Korrelation zwischen materiellen Prozessen und geistigen Prozessen als simple Eins-zu-eins-Abbildung zu verstehen, ist auf dem wissenschaftlichen Stand von höchstens 1720 [...] Der Tag, an dem die Hirnforschung aufbrach, um die Freiheit zu suchen, ist vergleichbar dem Tag, an dem der proletarische Dummkopf Gagarin erzählte, er sei im Weltraum gewesen und habe Gott nicht gefunden." ("Gott - Eine kleine Geschichte des Größten", München: Pattloch 2007, S. 144)
Wer das Menschenbild der Hirnforschung ernst nimmt, muß glauben, daß er noch nicht einmal selbst darüber entscheiden kann, ob er im nächsten Moment ein Erdbeereis oder einen Apfel essen wird: Alles ist bloß Resultat von Prozessen im Gehirn, denen der Mensch unterworfen ist. Der Mensch als willenlose Maschine, unfrei, geknechtet, niedrig, der Gedanke an die Gottesebenbildlichkeit ausgelöscht.
Aber warum gefällt es unserer Zeit, dem Menschen die Würde abzusprechen? Wem ein solches Menschenbild dient, ist schnell entschieden: allen, die den Menschen verzwecken wollen, ihn ihren Ideologien oder Interessen opfern wollen, ihn moralisch und wirtschaftlich ausbeuten wollen. Disziplinen wie Philosophie oder Hirnforschung bringen, ideologisch vereinnahmt, die moralischen Hürden zum Zusammenbruch, die dabei noch hinderlich sind, sie machen sich zur gehorsamen Dienerin mächtiger Interessen.
Auf die alte Frage was der Mensch sei, hatte das gar nicht so finstere mittelalterliche Denken jedenfalls überzeugendere und menschenfreundlichere Antworten gefunden als unsere Zeit .
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